Durch den mutigen Aufschlag der Irin Shelby Lynn ist in den letzten Wochen eine Welle in Bewegung gekommen, in deren Mittelpunkt die deutsche Band Rammstein und deren Sänger Till Lindemann stehen. Wer die dankenswerter Weise massive Berichterstattung zu dem Thema nur oberflächlich überflogen hat, dem sei eine sehr gute Zusammenfassung des wie immer hervorragenden YouTubers Rezo ans Herz gelegt, der auch in seiner Bewertung am Ende den Nagel ziemlich auf den Kopf trifft.1

Wenn man all das systematisch erzeugen würde, dann will man keinen Consent. Dann will man vergewaltigen.“

Rezo in https://www.youtube.com/watch?v=ZEf5t26u8PM

Eine starke, aber auf Basis der vorliegenden Informationen wahrscheinlich richtige und treffende Aussage.

Nimmt man das Werk von Rammstein und insbesondere Lindemann mal unter die Lupe, wurde in den Medien und Kommentaren ja vielfach auch über Kunstfreiheit und die Trennung von Werk und Künstler gesprochen. Ehrlich gesagt komme ich da nicht ganz mit. Sicherlich, ein Schauspieler, der einen Vergewaltiger spielt, ist privat vielleicht ein netter Kerl und vermutlich kein Vergewaltiger und das Hineindenken in schwierige, vielleicht widerliche Charaktere, die sich dann aus der Ich-Perspektive erklären,  ist für viele Autoren eine virtuose Fingerübung, aber leider hat sich gerade in der Musik in der Vergangenheit doch leider zu oft bewahrheitet, dass die Typen, die kranken Scheiß zu ihrem Markenkern erheben, am Ende dann selber doch auch kranke Typen sind (neben den leider vielen Fällen, wo sich auch vermeintlich nette Künstler als kranke Weirdos herausstellen). Und wer sich auch nur oberflächlich mit Lindemanns Werk beschäftigt, wird sich angewidert abwenden.

Aber abgesehen von der Frage, ob es nette Jungs sind, die ihren Weltruhm einer faschistoiden Ästhetik und der Verherrlichung einer archaische Version von Männlichkeit verdanken, stellt sich doch die Frage, warum so etwas unter dem Lichte der Öffentlichkeit und der Fans (in München waren auch nach den Veröffentlichungen fast 200.000 Menschen auf den Rammstein-Konzerten) passieren kann? Warum kommen derartige Skandale mit schöner Regelmäßigkeit immer wieder in der Musikbranche vor?

Schon bevor Ian Dury 1977 den Begriff „Sex, Drugs & Rock’n’Roll“ geprägt hat, der darauf hin zu einer Art Lifestyle-Anleitung für das Musikbusiness wurde, war die Pop- und Rockmusik der 1960er Jahre geprägt von toxischer Männlichkeit, Misogynie und Sexismus. Der großartige Diedrich Diederichsen hat in der ZEIT 2021 dazu einen lesenswerten Text2 veröffentlicht und darauf hingewiesen, dass einige der großen Klassiker der 1960er Jahre ziemlich unverhohlen über Unterdrückung, Femizide oder Gewalt gegen Frauen handeln. Wer immer schon zu „Under my thumb“ von den Rolling Stones mitgegrölt und getanzt hat, sollte sich den Text mal aus einer 2023er Perspektive durchlesen.

Seitdem ist die Situation trotz Feminismus und einer sich langsam ändernden öffentlichen Rezeption nicht besser, sondern schlimmer geworden. Insbesondere im Rap gehören frauenfeindliche Texte zu den unabdingbaren Zutaten vieler Karrieren. Auch hier gilt natürlich, dass die Trennung von Kunst und Künstler mitunter auf einer sehr schmalen Linie verläuft. Ich für meinen Teil mag jedenfalls nicht glauben, dass jemand, der von gewaltsamen Analsex singt, privat so ganz anders sein soll. Gerade in der Musik ist die Trennung von Persona und Person dann doch oft zumindest changierend.

Die Bestätigung haben wir dann leider viel zu oft prominent gesehen und sind deswegen inzwischen achselzuckend irgendwie schon abgestumpft („Gehört halt dazu“ – nein, tut es nicht!). Diederichsen hat die Verteidigungslinie „das sind doch alles nur kleine Angeber“ in seinem Text ebenfalls schön auf den Punkt gebracht:

„Leider hat sich in den letzten Jahren immer häufiger herausgestellt, dass große, auch sympathische Angeber tatsächlich Vergewaltiger waren.“

Diedrich Diedrichsen „Stellt alles auf den Kopf!“ in Die Zeit vom 09.07.2021

Trotz hervorragender und glücklicherweise immer mehr werdender weiblicher Musikerinnen und Stars in den letzten 20 Jahren, ist und bleibt die populäre Musik auch im Jahr 2023 eine verdammte Pimmelbastion.

Beispiele?

Die offiziellen deutschen Single Charts des Jahres 2022: 88 männliche Künstler unter den Top 100 und nur 27 weibliche Künstlerinnen. Und viele von denen noch als Anhängsel eines männlichen Kollegen als „featuring“ – weil die Frau alleine halt bestenfalls für eine sexy Vocal-Hook taugt.

Das Line-up eines der größten deutschen Festivals – Rock am Ring, trotz des Umstandes, dass es in der Vergangenheit schon als „Cock am Ring“3 geschmäht wurde: Von 71 Acts in den drei Tage 2023 sind 75% rein männliche Acts, 18% Acts mit zumindest einer Frau dabei – auch hier in aller Regel nur die Frontfrau – und nur 7%, also ganze 5 aus 71 sind rein weibliche Acts. Die Headliner (Die Toten Hosen, Kings Of Leon, Bring Me The Horizon, Foo Fighters, Rise Against, Limp Bizkit, Machine Gun Kelly, Tenacious D, Apache 207, K.I.Z, NOFX, Yungblud) lesen sich wie eine einzige Pimmelparade. Und wir reden über das Jahr 2023.

Und das ist nur eines von sehr, sehr vielen Festivals in diesem Sommer. Ein Freund und Veranstalter hat mir dazu gesagt, dass das alles nicht so einfach sei und ich keine Ahnung habe von Gebietsschutz, Verfügbarkeiten und anderen Problemen und so weiter und so fort. Ehrlich gesagt klingt das für mich wie die Ausreden, die man auch aus der Industrie hört: „Es gibt eben nicht genug qualifizierte Frauen für die Top-Management Positionen“, „Am Ende entscheiden die sich dann doch eher für Familie als für Karriere“, „Wir würden ja gerne eine Frau nehmen, aber…“.

Wie in der Industrie, so sind auch in der Musikindustrie die entscheidenden Positionen und Gatekeeper vornehmlich durch Männer besetzt. Und der Hans stellt halt einfach gerne einen Michael ein und der Klaus-Peter engagiert am liebsten einen Campino.

CEO Spotify? Mann. Wichtigste Veranstalter in Deutschland (und weltweit)? Vornehmlich Männer. Der Vorstand des größten Live Entertainment Konzern der Welt, Live Nation? 9 Männer, 3 Frauen. Vorstand des größten Wettbewerbers, der deutschen Eventim? 3 Männer. Immerhin waren die dank der deutschen Geschlechterquote für Aufsichtsräte gezwungen, eine Frau in den Aufsichtsrat zu wählen. Musikproduzenten? Vornehmlich Männer (selbst hinter vielen erfolgreichen Frauen). Plattenfirmen? Bis auf die Frauen im „Marketing“ und Praktikantinnen oftmals auch eine reine Pimmelveranstaltung. Nachwuchsmusiker in jeder x-beliebigen Kleinstadt Deutschlands? Jungs, Jungs, Jungs.

Man kann fast glauben, dass das ganze System Musikindustrie darauf aufgebaut ist, dass man mehr oder weniger gut aussehende und coole junge Typen auf eine Bühne stellt, damit mit sie von zahlreichen jungen Mädchen angehimmelt werden.

Was erwarten wir von einem derartigen System?

Dass ein Typ wie Till Lindemann ein System zur Zuführung von jungen Frauen etabliert, ist am Ende nichts anderes, als wenn die ERGO Versicherung Vorstände und Top-Manager zu einer Bums-Sause in eine Budapester Therme einlädt. Solche Abartigkeiten kommen immer dort vor, wo sich Männlichkeit mit Macht, Erfolg und ohne weibliches Korrektiv paart.

Im neuen Benjamin von Stuckrad-Barre4 gibt es eine dem System Lindemann vergleichbare Szene, die einen Bums-Bus in Los Angeles beschreibt, in dem reichen Silicon-Valley-Männern jungen Frauen zugeführt werden. Den realen Hintergrund hinter der literarischen Schilderung konnte man seinerzeit in den Medien verfolgen.5

Das Problem ist größer als Lindemann und verantwortlich sind wir als Gesellschaft, aber natürlich auch die Leute an den entscheidenden Machtpositionen. Die Veranstalter von Rock am Ring haben jedenfalls nichts aktiv getan, um die männliche Dominanz auf ihrem Festival zu brechen.

Wir haben diese Probleme in unserer Gesellschaft, in der Politik6, in der Wirtschaft, in MINT-Berufen und es wird zum Verrecken nicht besser. Und das liegt vor allem auch daran, dass es Mädchen und jungen Frau oft auch an weiblichen Vorbildern fehlt.

Jedem fallen direkt zwei oder drei bekannte männliche Schlagzeuger ein. Wer kennt eine bekannte weibliche Schlagzeugerin?7 Wer kennt Gitarristinnen? Bassistinnen8? Tontechnikerinnen? Wo sollen diese herkommen, wenn die gesamte öffentliche Rezeption (Festivals, Charts, Radio) geprägt ist von Männern?

Bands wie Blond (super!) und Künstlerinnen wie Badmomzjay leisten aktuell wahrscheinlich mehr für die Gleichberechtigung, als unsere Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien – was aber am Ende fehlt, ist eine Quote.

Warum dürfen Festivals stattfinden, wo zu 75% nur Männer spielen? Warum bekommen solche Pimmelveranstaltungen dann sogar zum Teil noch Fördergelder? Warum darf im Radio mehr männliche als weibliche Musik gespielt werden?

Einschub: Die Franzosen haben seit 1994, die Kanadier seit 1971 eine Radioquote, die die Radios verpflichtet, mindestens 50% (Canada) bzw. 40% (Frankreich) nationale Künstler:innen zu spielen. Ein Umstand, der der Entwicklung der Musikindustrie in diesen Ländern extrem gut getan hat. Deutschland konnte sich dazu nicht durchringen und noch immer dominieren in vielen Bereichen US oder englische Künstler den Markt, auch wenn es dank Internet und Streaming besser geworden ist.

Die Diskussion um Quoten stößt natürlich auf (vornehmlich) männlicher Seite auf erbitterten Widerstand. Sei es bei der Diskussion um DAX-Vorstände, Aufsichtsräte, Listenplätze bei Wahlen etc. pp. Stattdessen wird gerne der größte Scam der neueren Geschichte aus der Tasche gezogen: Die freiwillige Selbstverpflichtung 😂 – nur leider ist uns allen klar, dass diese außer Schenkelklopfen auf Managermeetings rein gar nichts erreicht. Ich frage mich immer, ob in einer maternalistischen Gesellschaft die gleichen Leute ebenfalls gegen eine Quote wären?

Die Gleichberechtigung und die aktive Förderungen von Frauen ist eine immerwährende Aufgabe, die wir erst aufgeben dürfen, wenn wir minderqualifizierte Top-Managerinnen in Vorständen haben oder wiederkäuende Endfünfziger Frauenbands als Headliner bei Rock am Ring.

Dann haben wir uns vermutlich der Gleichberechtigung angenähert und solange brauchen wir eine Quote. Damit einhergehend gilt es natürlich die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen anzupassen: z.B. Ganztagsschulen, um Familie und Karriere unter einen Hut zu bringen. Die brauchen weibliche Managerinnen genauso wie sie von Bassistinnen und Gitarristinnen benötigt werden.

Wir dürfen dabei nicht nur aus ethischen Gründen auf die Gleichberechtigung schauen – auch aus rein utilitaristischer Sicht ist die Förderung von Frauen (und eine Quote) wichtig: Wir können es uns als Gesellschaft schlicht nicht leisten, das geistige, kreative und moralische Kapital von 51% der Gesellschaft zu verschenken!

Man denke alleine an großartige Künstlerinnen wie Florence Leontine Mary Welch, Kate Bush, Rhianna, Madonna, Lady Gaga, Miley Cyrus, Beth Ditto, Kim Gordon, Christine McVie, Björk, Stevie Nicks, Miss Elliot oder den beiden Humpe-Schwestern in Deutschland – um nur einige der bekanntesten zu nennen.

Es wird Zeit, dass wir die Pimmelquote auf deutschen Bühnen senken. 


1 https://www.youtube.com/watch?v=ZEf5t26u8PM

2 https://www.zeit.de/2021/28/metoo-popmusik-sexualisierte-gewalt-sexismus-popkultur-geschichte/komplettansicht

3 https://www.zeit.de/news/2022-06/02/cock-am-ring-und-kebekus-fuer-mehr-frauen-auf-festivals

4 „Noch wach?“ Benjamin von Stuckrad-Barre, Kiwi 2023

5 https://www.vanityfair.com/news/2018/01/brotopia-silicon-valley-secretive-orgiastic-inner-sanctum

6 Da ist es Dank Quoten und Druck zumindest bei einigen Parteien besser geworden.

7 Ich kenne einige und darf mit einer wirklich sehr coolen Schlagzeugerin zusammenarbeiten: http://instagram.com/lisabruynen_drums/

8 Ich liebe Nikki Monninger von den Silversun Pickups!

Bild von Okan Caliskan auf Pixabay