In den letzten Tagen beobachte ich erstaunt, wie auf einmal eine kollektive Kriegshysterie unter meinen Freunden, in den Medien und in der Politik in Deutschland und im Rest Europas ausbricht. Nicht, dass mir der terroristische Überfall Putins auf die Ukraine nicht außerordentlich nahe geht und mir massive Sorgen bereitet – ich frage mich nur, was ist jetzt so besonders an diesem Krieg? Ich muss dann lesen, dass Leute mit Ihren Kindern sprechen, weil jetzt „wieder Krieg ist in Europa“ und man es sich nicht hätte vorstellen können. Von der schlimmsten Entwicklung seit dem zweiten Weltkrieg.

Ehrlich gesagt komme ich da nicht mit. Seit ich denken kann (ich bin 1966 geboren) begleitet mich Krieg. Ich kann mich bis auf kurze Zeiträume nicht an eine kriegsfreie Zeit erinnern. Vietnam, Korea, Kambodscha, Libanon, Afghanistan, erster Golfkrieg, Falkland, Grenada, Somalia, zweiter Golfkrieg, Jugoslawien, Kroatien, Kosovo, Tschetschenien, Irak, Syrien, Afghanistan, Mali, Sudan – mal ganz abgesehen von den hunderten regionalen Konflikten, Terrorkriegen, Krieg gegen Drogen, islamischen Terror, der RAF, der NSU, Krieg in Nordirland. Selbst wenn man  eine reine euro-zentristische Sichtweise zu Grunde legt, hat allein der Krieg in Jugoslawien 250.000 Todesopfer mitten in Europa gefordert.

Krieg ist immer und überall auf der Welt. Und Krieg ist immer Scheiße.

Und warum man jetzt irgendwie überrascht ist, dass Putin einen Angriffskrieg anzettelt, erschließt sich mir auch nicht. Nach Georgien, Tschetschenien, dem Kaukasus, der Krim und den brutalen Operationen in Syrien sollte man doch eigentlich wissen, wie der Mann tickt.

Was also ist das Problem? Dass die Deutschen jetzt Angst haben, dass sie im nächsten Winter in kalten Wohnungen sitzen oder dass man nochmal 150.000 Leute aufnehmen muss?

Die Realität ist doch die: Solange es nicht bei uns vor der Haustür ist und solange wir ordentlich Business machen oder uns sonst irgendwelche Vorteile versprechen, juckt es uns einfach nicht. Wir lassen die verrückten, asozialen und toxischen Männer (und darum handelt es sich in 100% der Fälle) überall auf der Welt einfach machen. Bestensfalls kritisieren wir es – aber nicht, ohne gleich den nächsten Wirtschaftsvertrag zu unterzeichnen. Entweder ist das blanker Opportunismus oder ein kindlicher Irrglauben, dass solange wir zusammen Geschäfte machen alles irgendwie gut wird. Kapitalismus als friedenststiftendes Element. Was auch immer es ist: Es ist schlicht falsch.

Putin sperrt Nawalny ein und unterdrückt die Opposition im Land? Wir bauen Nord-Stream 2. Orban schafft Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ab und verhöhnt die EU? Wir schicken Geld. Die Polen machen es Orban nach? Wir betonen das gute Verhältnis zu unserem Nachbarstaat. Die Chinesen unterdrücken die Uiguren? VW und Daimler übertreffen ihre Umsatzziele in China. Saudi-Arabiuen zerstückelt Regimekritiker? Hauptsache der Tank ist voll. Die Liste lässt sich endlos fortsetzen.

Wenn wir wirklich ernsthafte Konsequenzen aus dem Krieg in der Ukraine ziehen wollen, dann müssen wir endlich diese Scheinheiligkeit hinter uns lassen und uns neu positionieren. Und dafür ist nichts besser geeignet als ein vereintes und einiges Europa.

  1. Wir brauchen endlich ein europäisches Verteidigungsbündnis, das in der Lage ist, unser Europa und unsere Werte zu verteidigen. Das umfasst leider auch eine europäische nukleare Verteidigungsstrategie. Und wir müssen unabhängig werden von der von den Amerikanern dominierten Nato, da wir einerseits nicht in Konfikte anderer Parteien hineingezogen werden wollen und uns andererseits klar sein sollte, dass nur wenige (gefakte) Stimmen reichen, um den nächsten Schwachkopf ins Weiße Haus zu wählen, der uns im Zweifelsfall seinen eigenen Interessen unterordnet.
  1. Wir brauchen eine eigenständige europäische Energiepolitik und müssen uns umgehend von autoritären Regimen in Russland, Saudi-Arabien und anderen Ländern unabhängig machen. Das ist nach wie vor das krasseste Erpressungsszenario für uns. Das wird kurzfristig nur gehen, wenn wir die Laufzeiten der Atomkraftwerke verlängern und massiv auf Strom als Energiequelle setzen. Mittelfristig müssen wir dann – auch im Rahmen unserer europäischen Klimaziele – massiv den Ausbau von regenerativen Energiequellen vorantreiben.
  1. Wir müssen unsere wirtschaftlichen Interessen endlich unserer europäischen Grundrechtecharta unterordnen. Wenn unsere internationalen Handeslpartner gegen unsere Werte verstoßen, dann müssen wir einschreiten. Wir sind einer der größten und wichtigsten Wirtschaftsräume der Welt – wer mit uns Handel treiben will und mit uns zusammenarbeiten möchte, der muss sich zumindest an die wesentlichen Grundregeln halten. Dies gilt doppelt für unsere eigenen Mitglieder und wer – wie Ungarn – nicht bereit ist unsere Werte und Rechte zu akzeptieren, der hat in der EU nichts verloren. Das von rechtsradikalen Parteien in ganz Europa geforderte „Europa der Vaterländer“ ist ja nichts anderes als der unverhohlene Wunsch nach einem Europa ohne gemeinsames Werteverständnis und Korrektiv, nach einem Europa vereinter Autokratien und Unrechtsstaaten.

Das alles wird nur funktionieren, wenn wir endlich die Vereinigten Staaten von Europa schaffen. Die Zeit dafür ist schon lange gekommen und es wäre auch die richtige Antwort auf die Sorgen unserer baltischen, schwedischen und finnischen Nachbarn.

Was nun die Ukraine-Krise angeht, so kann man an den Sanktionen schön sehen, dass es eben doch am Ende immer nur um wirtschaftliche Interessen geht.

Wie wäre es, wenn wir stattdessen den Gashahn selber zudrehen? Warum werden Konten eingefroren und nicht Guthaben eingezogen? Warum können wir nicht alle Yachten und Immobilien von russischen Oligarchen in europäischen Städten beschlagnahmen? Schlösser an der Loire und Weingüter in Frankreich für die Finanzierung der Flüchtlingsfrage verhämmern?

Russland führt einen hybriden Krieg gegen uns und erklärt alle Regeln für ungültig. Wir denken immer noch, dass wir dem mit dem Aufheben von Hermes-Bürgschaften begegnen können.

Es wird Zeit, dass wir Europäer endlich den Arsch hoch bekommen.