Andrea Nahles zu loben gehört ja fast zum guten Ton. Auch wenn das Lob oft vergiftet ist à la „super Fachpolitikerin, aber als Parteivorsitzende…“.

Ich fand Andrea immer gut. Die paar Mal, wo ich sie direkt erleben durfte – in Hintergrundgesprächen der Ebert-Stiftung, auf Podien, da war sie einfach Granate. Kompetent, gerade raus und ich persönlich habe ihre große Klappe und ihre Sprüche sehr gemocht. „Pippi Langstrumpf“ hätte sie vielleicht besser nicht gemacht – aber hey! – es gibt wesentlich peinlichere Sachen für Politiker. Und sie ist eine echte Sozialdemokratin. Jemand, dem man abnimmt, dass sie für die Sache brennt. Und aus meiner ganz eigenen Sicht eine der wenigen Politiker_innen, die nicht immer auch ihre private Karriere und Versorgungssituation im Blick haben.

Dass sie jetzt wegen schlechter Wahlergebnisse gehen muss, ist kompletter Unsinn und ein weiterer Sargnagel für die SPD. Auch wenn man ihr Respekt zollen muss, dass sie selbst in dieser schwierigen Stunde ganz Andrea Nahles-like geradeaus ohne viel Federlesen den vollen Rückzug eingeleitet hat.

Am Niedergang der SPD aber trägt sie nicht mehr Schuld als jedes einfache Mitglied. 

Die Krise der SPD ist keine Führungskrise. Die Krise der SPD ist auch kein programmatisches Problem. Es ist auch nicht Gerd Schröder daran schuld, der nach Jahrzehnten Stillstand den Mut gehabt hat, den Sozialstaat zu reformieren.

Wir reden hier über ein substantielles Problem. Über eine Partei, die in den letzten 150 Jahren bequem geworden ist, die nicht mit der Zeit und der Gesellschaft gegangen ist und die Partei oft um ihrer selbst willen betreibt.

Viele Neumitglieder erleben das (so wie ich selber) anschaulich. Wenn man dann in die Partei eingetreten ist, und das erste Mal den Ortsverein besucht oder versucht sich zu engagieren. Das Geflecht aus Jusos, ex-Jusos, AG60+ Block, Mandatsträgern, Leuten, die eifersüchtig auf Neue schauen, weil man offensichtlich Angst um die eigene Position / Mandat / Amt / Macht hat (Fakt ist: Unsere Partei hat überhaupt keine Struktur und kein Gespür dafür, Menschen wie mich, die in einem Gebiet Experten sind, zu werben, einzubinden und für die Sache zu nutzen. Ich würde das eine sehr schlechte HR-Strategie nennen).

Die „so-läuft-das-nicht“ oder „nur-über-meine-Leiche“ Ansagen. Festgefahrene Wege, wo dann lieber diskutiert wird, ob man jetzt Luftballons oder Aufkleber für den Stand braucht, als über das generelle Format oder (!) Inhalte. Die vollkommene Abwesenheit jedweder strategischen Ansätze. Die völlige Fehleinschätzung in Bezug auf andere Parteien und deren Attraktivität für die Wähler und, und, und. Man bekommt als Neuankömmling einen vollkommenen Kulturschock. Manchmal hat man den Eindruck, man befindet sich in einem sehr merkwürdigen Realword-Rollenspiel.

Ganz abgesehen davon, dass die allermeisten Menschen neben Beruf und Familie überhaupt nicht die Zeit haben, Ortsvereinssitzungen, Marktplätze oder sonstigen Versammlungen zu frequentieren und am Wochenende gerne auch bei der Familie sind.

Nicht, dass ich desillusioniert bin. Ich fühle mich nur immer ungut an die Zeit erinnert, in der ich als Consultant große deutsche Unternehmen bei der digitalen Transformation beraten habe. Gleiche Gemengelage: Führungskräfte ohne Vision, mittleres Management nur auf den eigenen Teller schauend und eine große „machen-wir-schon-immer-so“ Menge.

Als Consultants hatten wir für diese Fälle immer eine schöne Powerpoint-Slide – die „Transformationsmechanik“.

 

Im Wesentlichen sagt die Grafik: Man braucht Führungskräfte mit einer klaren Vision, die bereit sind Veränderung zu ermöglichen. Man braucht die Macher (im Digitalisierungssprech „Digital Natives“), die bereit sind los zu rennen, den Wähler in den Mittelpunkt stellen und Veränderung erwirken. Aber am Ende muss man  das große Zahnrad in Bewegung setzen – im Consultant-Sprech die „Business Natives“, im SPD-Sprech: Die Basis. Nur wenn die sich bewegt, fängt die Maschine an zu laufen.

 

Was die SPD also jetzt braucht, ist kein neues Führungsgremium, keine programmatische Erneuerung (…wir haben mit Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität das beste Programm von allen Parteien!), sondern eine tiefgreifende strukturelle Veränderung. Die SPD braucht eine agile (und digitale) Transformation. Die SPD muss ihr Business Model und ihre Organisation grundsätzlich in Frage stellen.

Wenn wir im Zeitalter von Transformation, Globalisierung und digitaler Beschleunigung weiterhin eine Rolle spielen wollen, dann führt kein Weg daran vorbei, dass wir die erste vollständig agile Partei der Welt werden müssen.

Schluss mit dem Parteiblödsinn von Delegierten, Unterbezirken, Berufspolitikern, Postengeballer bla bla bla.  Es geht um Inhalte und um Handeln, um Zielerreichung. Nicht um Struktur, Karriere oder Posten. Gute Ideen müssen sich schnell durch die Organisation entwickeln und müssen schnell umgesetzt werden können.

Agile Teams haben eine klare Vision vor Augen, ein Backlog an Aufgaben, das gemeinsam priorisiert wird und dann wird in kurzen Zyklen abgearbeitet. Immer verbunden mit sehr direktem und schnellem Feedback.

Parteiorganisation dagegen ist voriges Jahrhundert, langsam, ineffizient. Mein Eindruck ist der, dass Partei immer noch nach dem Wasserfall-Prinzip funktioniert und man sich dann nach 4 Jahren wundert, wenn das Pflichtenheft sich nicht mit den Kundenwünschen deckt.

Um nicht in 5 Jahren das Willy-Brandt-Haus verkaufen zu müssen, müssen wir daher einen viel radikaleren Schritt vollziehen als die meisten denken. Wir müssen diese Partei einreißen und aus den Trümmern eine neue Partei bauen.

 

Aber meine Prognose: Das ist (fast) aussichtslos. Weil wie in den meisten Unternehmen die Veränderungsbereitschaft da aufhört, wo es um die eigene Position geht. Und dann kommen neue, agile Unternehmen und fressen dich auf. So wie Apple Nokia. So wie Tesla, Uber, Lyft die deutsche Automobilindustrie. So wie die Grünen die SPD fressen. So ist der Gang der Zeit. Die Schnellen fressen die Langsamen.

Mein Respekt auf jeden Fall für Andrea, die sich ja nun offensichtlich komplett zurückzieht. Mutiger Schritt. Auch wenn ich glaube, wir könnten sie wirklich gut in unserem Team gebrauchen. So, wie wir auch Martin als Europapolitiker gebrauchen könnten und auch Sigmar als Wirtschaftspolitiker. Und selbst Gerd als jemanden, der unser Land wirklich nach vorne gebracht hat. Wenn wir die alle in agilen Teams hätten und hier gemeinsam hierarchiebefreit an Inhalten und Fortschritt arbeiten würden, dann können wir alles erreichen und niemand könnte uns aufhalten.

Glückauf!